Samstag, 27. Juli 2013

Verschwendung ist der Preis der Perfektion

Wie Essensretter Lebensmittel bewahren


Äpfel fallen überreif vom Baum, Möhren verrotten auf dem Acker, und frischer Joghurt landet im Müll. "Foodsaver" kämpfen gegen die Verschwendung



Lebensmittel, die eigentlich auf dem Müll gelandet wären: Jeder Deutsche wirft jährlich 81,6 Kilogramm Lebensmittel weg - das entspricht etwa zwei voll gepackten Einkaufswagen.
Suchend mustert Nils Kunstmann die Menschen am Hamburger Hauptbahnhof. 10 Uhr, an der Telefonzelle Ausgang Kirchenallee. Dort hatte er mit Martina N. die Übergabe vereinbart. Als klein, blond, rüstig hatte sich die Frau am Telefon beschrieben. Gesehen haben sich beide noch nie. Der Student und die Frührentnerin sind zwei von über 20 000 Nutzern der Plattform Foodsharing.de - einer digitalen Tausch- oder besser Verschenkbörse für Essen.

Das Prinzip der Website ist simpel. Wer Lebensmittel übrig hat, annonciert einen "Essenskorb". Wer interessiert ist, kann ihn abholen - beim Anbieter oder an einem Treffpunkt. Kostenlos. Nur die Hygieneregeln gilt es zu beachten: keine verderblichen Lebensmittel, also kein Hack, Fisch, Geflügel, keine rohen Eierspeisen.


Foodsharing ist nicht nur für Befürftige

Über sechs Tonnen Essen wurden seit dem Start des Projekts im Dezember 2012 vor dem Mülleimer gerettet. Mit gut drei weiteren Kilogramm in der Hand wartet Nils Kunstmann am Hamburger Bahnhof. Der 20-Jährige ist "Foodsaver", einer von mehr als 150 bundesweit. Die Freiwilligen sorgen als Lebensmittelretter dafür, dass neben dem Essen aus privaten Kühlschränken auch Restware aus dem Handel über Foodsharing geteilt wird. In Hamburg holt Kunstmann fast täglich die Restware einer Bio-Supermarktkette ab, die das Konzept als Kooperationspartner unterstützt. Was er und seine WG nicht selbst verbrauchen oder an Freunde und Nachbarn verteilen können, bietet er im Netz an. "Hallo, du bist sicher Nils", grüßt Martina N. Die 52-Jährige nimmt zum ersten Mal ein Angebot wahr, obwohl sie schon seit einigen Wochen registriert ist. "In Hamburg ist es schwierig, etwas Passendes zu finden", sagt sie. Weil es noch wenige Anbieter gibt, seien die Wege häufig zu weit. Ein Problem, das auch Valentin Thurn, dem Mitbegründer der Plattform, bewusst ist. "Zum Glück wachsen wir rasant. Wahrscheinlich haben wir Ende des Jahres 100 000 Nutzer", sagt er. Das sei nötig, damit der Austausch auf Stadtviertelebene funktioniert. In Berlin-Kreuzberg zum Beispiel ist es schon so weit. In der "Markthalle 9" gibt es den "Fair Teiler": einen Kühlschrank und ein Regal, wo jeder Lebensmittel abgeben und auch abholen kann.

"Bio-Gemüse, Bio-Obst und Bio-Molkereiprodukte", so hat Nils Kunstmann seinen Essenskorb im Internet beschrieben. Verlockend - vor allem für jemanden, der wenig Geld hat. "Ich kann am Tag genau 4,17 Euro für Essen ausgeben", sagt Martina N. "Das reicht zwar für das Nötigste wie Brot und Nudeln. Bio-Lebensmittel sind Luxus." Kunstmann überreicht ihr eine Ingwerwurzel, mehrere Gurken, Pastinaken, Paprikas, Zwiebeln, Kiwis, Äpfel und zwei Becher Joghurt. Ein Jutebeutel voll Luxus, für Martina N. "ein bisschen wie Weihnachten".

Foodsharing ist aber keineswegs nur für Bedürftige gedacht. "Bei uns soll und kann jeder mitmachen. Wir wollen weg von der Stigmatisierung: Die Reste der Reichen für die Armen", sagt Thurn. Der Filmemacher hat 2011 mit seiner Dokumentation "Taste the Waste" die verschwenderischen Praktiken der Lebensmittelindustrie angeprangert. Im vergangenen Jahr startete das Landwirtschaftsministerium dann die Kampagne "Zu gut für die Tonne". Sie soll dazu beitragen, dass in Haushalten weniger Essen in den Müll wandert: Nach Berechnungen der Universität Stuttgart wirft jeder Deutsche jährlich 81,6 Kilogramm Lebensmittel weg - das entspricht etwa zwei voll gepackten Einkaufswagen. Fast die Hälfte davon sei vermeidbar, weitere 18 Prozent zumindest teilweise.


Verschwendung ist der Preis der Perfektion



Verschwendung beginnt allerdings bereits auf dem Feld. Zu krumme, zu knollige, zu dünne und zu dicke Feldfrüchte bleiben jedes Jahr megatonnenweise auf Europas Äckern liegen, weil sie nicht der Handelsnorm oder dem Schönheitsideal des Verbrauchers entsprechen. Knapp die Hälfte der Ernte wird aussortiert: der Preis der Perfektion. Aus diesem Dilemma haben die Berlinerinnen Tanja Krakowksi und Lea Brumsack ihre Geschäftsidee entwickelt. Mit dem Catering-Service "Culinary Misfits" bringen die jungen Unternehmerinnen "kulinarische Sonderlinge" auf den Tisch: Verwachsene Steckrüben landen in der "Krumme Wurzel-Quiche", schräge Pastinaken wandern in die gleichnamige Suppe. Mit derlei kuriosen Köstlichkeiten beliefern die beiden Messen, Konferenzen, Firmenfeiern oder auch Hochzeiten - inzwischen ein Vollzeitjob. Das krumme Gemüse beziehen sie von zwei Bio-Bauernhöfen nahe Berlin.

Zurzeit sind die Frauen auf der Suche nach einem Laden. Um zu beweisen, dass verschmähtes Gemüse auch im Alltag eine Chance hat. Das Startkapital stammt von Hunderten Gleichgesinnten, die das Projekt über die Crowdfunding-Plattform www.startnext.de mitfinanziert haben. In nicht einmal drei Monaten haben sie per Schwarmfinanzierung 15 000 Euro gesammelt. Gegen die Verschwendung kämpfen und unternehmerisch erfolgreich sein - dass das zusammengeht, belegt auch ein Hamburger Projekt. Vor vier Jahren gründete Jan Schierhorn "Das Geld hängt an den Bäumen", einen Saftvertrieb, der zwei Dinge zusammenbringt: Äpfel, die an privaten oder städtischen Bäumen hängen bleiben und vergammeln; und Menschen mit Handicap, die Arbeit suchen, aber selten eine Chance bekommen. Regelmäßig fährt ein Transporter durch Hamburg und beliefert Firmen, Supermärkte, Feinkostläden, Restaurants, Büros mit Saft namens "Nachbars Garten" - naturtrüb und aus typischen regionalen Sorten wie Finkenwerder Herbstprinz oder Ingrid Marie gekeltert. 9000 Flaschen haben Schierhorn und sein Team gleich im ersten Jahr abgefüllt - schon viel mehr als ursprünglich erwartet. Inzwischen ist die Produktion bei 85 000 Flaschen pro Jahr angelangt, sodass nun bis zu 20 Mitarbeiter für das Projekt im Einsatz sind, darunter sieben Festangestellte. Weil die Ernte ein Saisonjob ist, erledigen sie auch Gartenarbeit. "So können wir die Leute das ganze Jahr über beschäftigen", sagt Schierhorns Geschäftspartner Christian Langrock. Schon bald steht der Bau einer eigenen Mosterei an, denn bislang müssen die Äpfel extern gepresst werden. "So können Menschen mit Behinderung bei allen Produktionsschritten mitarbeiten." Für die Zukunft denken die beiden Unternehmer über Franchise-Ableger in weiteren Städten nach. Schließlich hängt auch andernorts Geld an ungenutzten Bäumen.



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